Blek le Rat

Das Manifest des Pochoirismus

von Blek le Rat

Anlässlich einer Reise nach New York City im Jahre 1971 sah ich die ersten wilden, künstlerischen Graffiti. Sie wucherten überall: in der Metro, auf den Wänden rings um die Basketballfelder. Es waren mit Markern gezeichnete Graffitis, nervöse, von einer Krone besetzte Signaturen, omnipräsent in New York, sowie gesprühte, von Spiralen und Farben erfüllte Schriftzüge. Diese Miniaturmalereien hatten mich derart neugierig gemacht, daß ich die obligatorische Frage stellte:

»Was hat das bloß zu bedeuten und warum tun diese Leute das?«

Blek le Rat

Leider konnte mir niemand eine zufriedenstellende Antwort geben außer der, daß es sich um das Werk von Personen handle, denen es an Vernunft und an Verantwortung mangelte. »Schmutziges Gesindel« hatte Lindsay, der damalige New Yorker Bürgermeister, gesagt. In Paris befand sich diese Ausdrucksform zu dieser Zeit noch im Rohzustand. Natürlich hatte es 1968 eine Fülle politischer Inschriften auf den Mauern gegeben, natürlich hat- ten wir das Thema Kunst im öffentlichen Raum mittels der in den »Ateliers populaires de l’École des Beaux Arts« geschaffenen Plakate behandelt, aber es gab noch keine große künstlerische Bewegung, die dazu entschlossen war, in der städtebaulichen Landschaft zu intervenieren.

In den USA hingegen existierte Graffiti, diese Bewegung wilder Kunst, bereits seit Mitte der sechziger Jahre, als zehn zur Anonymität verbannte Künstler das Startsignal gaben, indem sie ihren Leihnamen mit dem Marker oder der Sprüh- dose auf die Wände schrieben.

Diese Erinnerungen blieben in meinem Gedächtnis verwurzelt und es sollte ganze zehn Jahre dauern, bis ich mich selbst ans Werk machte. Die Studien der Graphik und der Architektur an der Pariser École des Beaux Arts machten mich mit der Materie vertraut. Ich erlernte also in den siebziger Jahren die Techniken der Radierung, der Lithographie und des Siebdrucks, während das anschließende Architekturstudium in mir das Bewußtsein eines kalkulierbaren öffentlichen Raums weckte. Anfang der siebziger Jahre war ich sehr beeindruckt vom Werk David Hockneys, der gerade neben meiner Kunstschule eine große Ausstellung hatte. Für mich war Hockney das Beeindruckendste, was ich jemals gesehen hatte. Ein Jahr später kam Hockneys Film «The bigger splash » heraus. In einer Szene sieht man Hockney das Portät eines seiner Freunde in voller Größe mit Ölfarbe und Pinsel auf die Wand eines Apartments malen. Dieses Bild ging mir nie aus dem Kopf. Für mich war dieser Film derart bedeutend für die Kunstgeschichte, dass ich ihn gleich zehn oder fünfzehn mal sah.

1980 betreute mein Freund Gérard Dumas in Les Ulis einen Abenteuerspiel- platz für Halbwüchsige während der Ferien. Und ich ging ihm zur Hand. Dieses terrain d’aventure war von Kindern besiedelt, die mit dem einzigen Hintergedanken kamen, einander kennenzulernen und sich zu beschäftigen, ohne dass irgendeine Obrigkeit ihnen Fesseln anlegt. Der Spielplatz befand sich direkt hinter einem Supermarkt, und leichtfüßig pendelten die Kinder zwischen beiden Orten hin und her. Unter all dem Krimskrans den sie aus dem Geschäft anschleppten, waren nicht selten Sprühdosen zu finden. Die illegal ausgeführten Dosen wurden dazu verwendet, die kleine Hütte, in der wir unsere Utensilien verstauten, zu besprühen.

Unsere Hütte

Große, triefende, nach nichts aussehende Fresken erschienen und verschwanden im Laufe des Jahres auf unserer Hütte. Eine jede Kreation bewegte uns sehr und so beschlossen Gérard und ich, uns ebenfalls Sprühdosen anzuschaffen. Wir hatten uns angesteckt. Die Hauptstadt gehörte uns, und wir mussten nur noch zur Tat schreiten. Als wir im Oktober 1981 im 14. Arrondissement in der Rue des Thermopy- les zum ersten Mal sprühten, hatten wir versucht, ein amerikanisches Piece zu malen. Welch ein Fiasko! So schlug ich vor, Pochoirs herzustellen, eine sehr alte Technik, Vorfahre des Siebdrucks und später von den Rechtsradikalen in Italien für ihre Propaganda eingesetzt

Ich erinnere mich, als Kind Anfang der sechiziger Jahre in Italien das Kopfbildnis des Duce gesehen zu haben, eine Restspur aus dem zweiten Weltkrieg.

Die Technik war gefunden, das Material war beschafft, wieder hieß es zu handeln.

Platz war ausreichend vorhanden und Graffitisprühen war eine derart unbekannte Technik, daß die Runden drehenden flics uns praktisch gar nicht störten, es sei denn, um uns zu fragen, ob wir ein politisches Ziel verfolgten. Wir antworteten ihnenNein, das ist Kunstund es hatte sich erledigt. Wir hatten den Namen Blek in Anlehnung an einen in unserer Kindheit gelesenen italienischen Comic namens Blek Le Rock gewählt. Wir hatten ein Pseudonym gewählt, weil wir uns zur Anonymität entschlossen hatten.

Wir wollten die Leute unseres Viertels neugierig machen: Wer waren die Autoren dieser kleinen Ratten, der Bananen, der Läufer und all dieser kleinen Pochoirs, die wir am Tage fabrizierten und nachts im 14. und 18. Arrondissement sprühten?

Die Intervalle unserer nächtlichen Ausflüge verkürzten sich. Am 31.Dezember 1982 beschlossen wir, rings um den der Kunst geweihten Tempel, das Centre Georges Pompidou, zu sprühen.

Blek le Rat

In der eiskalten Nacht vom 31. Dezember auf den 1. Januar sprühten wir also einen ganzen Haufen Ratten, Panzer und kleine Personen an dieser Kultstätte. Die Wächter des Museums waren herausgekommen, um uns zu fragen, was wir da täten. Und wieder antworteten wir »Kunst«, was ein kleines Lächeln auf die Lippen der Wächter des Tempels zauberte. Am Ende des Winters 1983 trennte sich das Duo Blek, da Gérard anderweitig beschäftigt war, und so blieb ich allein und adoptierte den Namen Blek le Rat.

»Der Name – das ist die Religion der Graffiti«

Norman Mailer

Durch den Namen wird man erkannt, auf Schritt und Schritt verfolgt, das Bild ist der Untergrund für diesen Namen, dieser Name sagte mir: du existierst für Tausende Personen, die du nicht kennst und die du niemals kennenlernen wirst, doch du existierst in dieser verschlossenen Welt der städtischen Anonymität.

Es war mir gegeben, Bilder zu malen und all die Mittelsmänner zu umgehen, die meine Arbeit nach ihrem Konzept beurteilen würden. Eine Art Freiheit. Ich war allein in der Stadt und die Stadt gehörte mir. Nach jeder Nacht, in der ich gesprüht hatte, ging ich am nächsten Tag immer wieder an meinen Wänden vorbei und manchmal verbrachte ich Stunden damit, meine Bilder und die Passanten zu beobachten. Selbst ein flüchtiger Blick ihrerseits erfüllte mich mit Freude. Die Anzahl meiner Pochoirs erhöhte sich zunehmend, denn das Leben eines Pochoirs ist vergänglich, bedenkt man, wie es behandelt wird. Die getrocknete Farbe bildet auf der Oberfläche des Kartons eine Kruste, die ausgeschnittenen Stellen schließen sich nach dem häufigen Sprühen. Neue Pochoirs müssen also hergestellt werden, und je mehr man arbeitet, umso perfekter wird die Technik und desto leichter wird es, umso befriedigender ist das Ergebnis.

Da ich die Technik nun besser beherrschte, hatte ich im März 1983 die Idee zu einem Pochoir eines Mannes in Lebensgröße. In der Zeitung Libération fand ich das Photo eines alten, eine Schirmmütze tragenden Mannes. Dieses Photo kam aus Nordirland und mir gerade recht für ein Pochoir. Diese Figur sollte durch etwa zehn Städte Frankreichs schlendern, in denen sie die Spuren meiner Präsenz hinterließ. Sie wurde genannt Buster Keaton, Charlot, der Alte und ihre Bekanntheit nahm unvorhergesehene Aus- maße an. Ein wahres Manna für die Photographen! Auf meinen Alten stieß ich des öfteren in den Zeitungen,

wo er Artikel illustrierte, die nicht unbedingt über Graffiti sprachen. Es war also ein Erfolg, und eine Vielzahl von Gestalten, die mir zusagten und mit denen ich mich verbunden fühlte, setzte meine Arbeit fort.

Da waren Tom Waits, ein kleiner Junge in kurzen Hosen Andy Warhol, Marcel Dassault, die Frau mit Kind aus Pakistan, ein russischer Soldat, welchen ich an den Eingängen der Pariser Stadtautobahn gesprüht hatte Mitterrand, ein Faun, Joseph Beuys, ein rennender schreiender Mann, Christus, zwei Hunde bei der Fortpflanzung, eine Frau mit Strapsen, die ich am Eingang des Hauses von Serge Gainsbourg und anderen passenden Orten malte.

Sie sind meine Figuren, sie ähneln mir alle irgendwie, sie stellten mich der Welt vor, wie eine Person sich einer anderen vorstellt. Wann immer ich sie auf die Wände malte, hatte ich das Gefühl, ein Stück von mir selbst an den Wänden aller Städte, die ich besuchen konnte, zu lassen.

Im Sommer 1984 erschienen andere Pochoirs in Paris. Die ersten, die mir auffielen, trugen die Signatur von Marie Rouffet und Surface Active. Der Dialog zwischen uns war hergestellt und die Graffiti der beiden Künstler gesellten sich zu den meinen, wie ein Augenzwinkern zwischen uns, was mir nicht mißfiel und was mich zum Träumen brachte über diese neue Kunst der Sprache, die Zeichen, die wir schon gemein hatten.

Zu dem Zeitpunkt, als neue Pochoirs in Paris erblühten, begann die heim- tückische Strafverfolgung ihre Fühler auszustrecken. Die Polizisten wurden zunehmend aggressiver und meine erste Verhaftung vollzog sich in Les Halles. Erster Polizeigewahrsam, erster Polizeibericht in einem Kommissariat, erste Vernehmung durch einen Inspektor, der ein großer Anhänger von Comics war und den Bericht glücklicherweise nicht dem Staatsanwalt übermittelte. Also ohne rechtliche Folgen.

Ab Ende des Jahres 1984 allerdings war dann die Angst, gefaßt zu werden, ständig präsent. Ich studierte die Gewohnheiten der flics, beobachtete ihr Kommen und Gehen, lernte, ihre freien Tage und die Stunden, in denen sie ihre Runden drehten, zu ermitteln und meine Arbeit eben diesen Angewohnheiten anzupassen. Letztendlich hatte ich eine Menge Vorsichtsmaßnahmen für meine Arbeit zu treffen, die zunehmend illegalen Charakter annahm. Trotz dieses wenig erquicklichen Spiels war mein Verlangen danach, mir Ausdruck zu verleihen und zu malen so stark, dass sich die von diesem Versteckspiel erzeugte Span- nung zum gewollten Zeitpunkt in einen Regen von Kreativität verwandelte. Nichts ist stärker als in einer Winternacht mit gefrorenen Händen zu arbeiten, wenn das Herz lodert vor Angst.

Ich habe nicht aufgehört, Angst zu haben, bis zu diesem Tag im Oktober 1991, als meine Angst sich kon- kretisierte durch einen kurzen Aufenthalt vor der Pariser Strafkammer wegen des Verbrechens: Beschädigung fremden Eigentums. Nochmals hatte ich das Glück, auf einen gutartigen Richter zu stoßen, der meine Arbeit mochte und mir sagte, indem er auf das Foto, welches mein Anwalt ihm anvertraut hatte, zeigte: »Ich kann Sie dafür nicht verurteilen, es ist zu schön.«

Die Graffitibewegung hat nichts anderes im Sinn als das Wort über das Bild zu ergreifen. Worte an die Gemeinschaft, Worte der Liebe, Worte des Hasses, vom Leben und vom Tod. Es ist eine elegante, raffinierte Art Therapie mit dem Versuch, die Leere dieser modernen schrecklichen Welt zu füllen, den öffentlichen Raum mit Bildern zu bedecken, die den Blick des sich zur Arbeit begebenden Passanten mit Freude erfüllen möchten.

Die Obrigkeiten aber erklärten den Graffitis erbarmungslos den Krieg. Angefangen bei jedem nur denkbaren Gesetz bis zu psychologischem Krieg, solange bis jegliche Pochoirs und künstlerische Ausdrücke entlaubt oder vernarbt waren. Unangemessen hohe Strafen schwebten über den Köpfen der jungen Künstler, sie wurden von gigantischen Bußgeldern bedroht. Als ob die Stadt von Graffitis mehr zu befürchten hatte als von Drogen. Aber das Verlangen, sich auszudrücken und zu malen ist so groß, dass die Künstler einander ablösen. Indem sie dies auf der ganzen Welt tun, machen sie aus dieser urbanen Kunst, was die Diffusion der Bilder und die Authentizität die sie ausstrahlen angeht, die größte künstlerische Bewegung des Jahrhunderts. Orte ohne die Spuren muraler künstlerischer Interventionen gibt es nicht mehr. Selbst in Peking, im härtesten Regime unseres Planeten, hinterläßt gerade in diesem Moment ein Mann seine Spur.

All dem zum Trotz betrachtet man diese städtische Kunst weiterhin wie eine um sich greifende Plage. Ich habe den Eindruck, daß die Metropole gerade durch die poetischen Eingriffe, die unsere Sprühdosen hervorbringen, zu voller Schönheit erblüht.